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Glosse Nr.18 / 29. April 2005

Das Phantom der Passarelle

Plötzlich stand dieser Mann auf der Passarelle des Bahnhofs vor mir, eben hatte ihn eine der berüchtigt gemütlichen Rolltreppen ausgespuckt. Irgendwo um die 50 rangierend, vermochte die Blondierung seiner Haare das Grau an den Ansätzen nicht zu übertünchen. Seine teure Brille war eine Spur zu gross und hatte etwas von einer Windschutzscheibe.

Er sprach mich mit Vornamen an und begann freudig erregt an meiner Schulter zu rütteln, derweil ich keine Ahnung hatte wer er war. Mein Verfolgungswahn flüsterte mir leise zu, dass der Typ jeden Moment eine Tube Senf über meiner Jacke ausdrückt, um mir dann beim Reinigen zu helfen und mir beiläufig Bargeld, Natel, Hausschlüssel und Zahnplomben zu klauen.

Wie immer in solchen Fällen pflegte ich meine Irritation zu verbergen und tat als würde ich die entsprechende Person naklar aber jadoch wiedererkennen. Es folgte belanglose Konversation aus der seichten Schublade, wobei ständig Informationen gesammelt wurden, damit der kleine Archivar in meinem Kopf die Fiche zu diesem Herrn aus der Hängeregistratur rauspicken konnte.

Leider war das entsprechende Dossier diesmal wohl zwischen zwei Mappen runtergerutscht oder falsch abgelegt worden. Er redete und redete und ich kam nicht dahinter wer er war. Immerhin wusste ich nach zwei Minuten, dass er einmal mehr mit dem Zug durch die halbe Schweiz habe reisen müssen, zu seinem 942. Vorstellungsgespräch. Das liess schon einige Rückschlüsse zu.

Wieso redete er von schönen Zeiten in der Abteilung und der Freude mich wiederzusehen? Ich konnte mit seinem Alterssegment und dem Terminus "Abteilung" nichts anfangen, weder auf beruflicher noch militärischer Ebene. Nach weiteren vier Minuten wusste ich, dass er 55 Jahre alt und seit vier Jahren arbeitslos war - also ein Mann der nie wieder die Sonne sehen wird.

Dann klang er hoffnungsvoll. Es sei offensichtlich dass eine Trendwende durch die Wirtschaft ginge. Der Wert erfahrener Arbeitnehmer, gerade auf Kaderebene, sei im steigen begriffen. Er stünde in den Startlöchern. Durchhalten zahle sich aus. Auf welchem Stern lebt dieser Traumtänzer? Ich denke eher, dass man irgendwann beginnt Neugeborene aus dem Kreissaal auf die Schulbank zu schieben.

So bringen sie den unlukrativen Lernprozess möglichst früh hinter sich und können schnell in die Manövriermasse der Arbeitnehmer eingereiht werden. Mit 35 sind sie dann so weit verheizt, dass sie Namens der Wettbewerbsfähigkeit den Fusstritt in die Arbeitslosigkeit kriegen, wo sich der Sozialstaat um sie kümmern soll, bis sie das Pensionsalter von 75 erreicht haben.

Doch unvermittelt verabschiedete sich das Phantom der Passarelle und entschwand via Rolltreppe in die Schalterhalle hinab, um auf dem Zentralbahnplatz die Linie 11 Richtung St.Louis zu nehmen. Die nächsten drei Stunden erwartete ich jeden Moment die erleuchtende Eingabe. Alles blieb dunkel in der Rumpelkammer meines Erinnerungsvermögens. Irgendwann werde ich morgens um halb drei hochschrecken und es wissen.

engel

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